Wie einfach ist es heute, sich online anzuschreiben, das Herz auszuschütten, großmäulig zu werden, wenn man anderer Meinung ist. In Partnerbörsen frech zu flirten, Sex und nackte Haut gibt es im Netz ohnehin ohne Ende zu finden. Doch was bleibt am Ende? Was, außer ein schales Gefühl?
Begründet, denn es kostet nicht viel Mut und Überwindung, es bedarf keiner Eier. Wie viel schwerer ist es da, eine quirlige, sympathische Frau im Supermarkt anzusprechen, einen Fremden um Hilfe zu bitten, seine Stimme zu erheben, wenn der Kollege es wieder einmal zu weit getrieben hat?
Ein Grund, warum der Camino einen so vital, so lebendig, so strotzend vor Lebenskraft zurückkommen lässt, ist sicher, dass alles REAL ist.
Ursprünglich veröffentlicht im Oktober 2014, zuletzt aktualisiert imJuli 2021
Das echte Leben
Hier auf dem Jakobsweg ist man noch wirklich an der Luft unterwegs, anstatt einem Helden auf der Leinwand vom Sessel aus zu folgen. Hier spricht man noch wirklich mit Einheimischen, Mitpilgern, schaut ihnen in die Augen, hört ihr Lachen, schenkt ihnen eine Umarmung und eine Berührung, wenn das Herz es will.
Und nichts, ja wirklich nichts kommt diesem Gefühl der absoluten Lebendigkeit gleich. Selbst der verkopfteste Mensch spürt hier sein Herz und seinen Körper, lässt für einen Moment mal seine Gedanken ziehen und ist einfach nur „da“. Für einen Moment angekommen, an einem Ort, wo er immer hinwollte, im jetzt. Manche nennen diesen Zustand „Flow“.
Ja, ich bin verliebt in diese Reisen, ich gebe es zu. Weil sie mich ermutigen, reinigen, befreien und mir ermöglichen, mich dem anderen, meinem Gegenüber zu zeigen, so wie ich bin, in einer Art, wie ich es daheim im Alltag selten erlebe, selten schaffe.
Im Flow
Es ist, als würde der Camino, das Reisen an sich, einen mit einem unsichtbaren, schützenden Band versehen, dass es einem leichter macht, man selbst zu sein, ohne Masken. Oder was ist der Grund, dass sich so viele Menschen auf dem Camino so echt nähern und ihre Welten teilen können?
Das lustige ist, dass dies alles fast wie von selbst passiert, ist man einmal auf dem Camino gestartet. Du machst nur den ersten Schritt, stolperst noch etwas unbeholfen in das erste Gespräch, und bist schon freier im nächsten. Losgehen ist das Geheimnis.
To show up is 80% of life.
Das hat mal jemand gesagt, und da ist was dran. Der Rest passiert von alleine.
Der von mir überaus geschätzte – und hier porträtierte – Reiseschriftsteller Andreas Altmann gibt etwaigen „Online-Beschwerern“ und Lästerern auf seiner Homepage folgende warnende Worte mit:
Bitte: Don’t write! Bedenken Sie, wie jämmerlich Sie als virtueller Maulheld wirken. Drängt es Sie tatsächlich, loszuprusten, dann kommen Sie zu einer Lesung, stehen hinterher auf und machen Ihrem geschundenen Herzen Luft. Das hat Format, das bringt Glanz in Ihr Leben.“
Wie wahr. Und wie viel Mut es doch braucht.
Dieser Text ist zugleich ein Beitrag zur Blog-Party von Lebenskünstler.at
Hallo Christoph, das hast du sehr treffend zusammengefasst. Mir ging es ganz genauso, jedes Mal, wenn ich unterwegs war. Vielleicht liegt es auch ein wenig daran, dass alle Pilger (oder zumindest ein Großteil) sich freimachen, von den Begrenzungen, die das Alltagsleben so manchmal mit sich bringt. Schubladen wie Jobposition, Familienstand, Alter sind plötzlich nebensächlich. Da fällt es einfacher, man selbst zu sein. LG Laura
Hi Laura, das hab ich auch so erlebt. Unterwegs ist es manchmal leichter, ein paar Ketten abzuwerfen. Herausforderung, das auch im Alltag zu versuchen 🙂 lg Christoph
Super geschrieben. Das ist mir richtig ins Herz gegangen. Total klar und direkt ausgedrückt – genauso ist es. Ich hoffe ich werde auch bald mal den Mut haben für den Jakobsweg, dann werde ich auch versuche darüber zu berichten – mit sich im FLOW zu sein ist so ein schöner Zustand. Leider geht er oftmals im Alltag verloren, weil keine Zeit.
http://www.dorisworld.at/2014/11/07/5-dinge-die-mir-gut-tun-egal-wo-auf-der-welt-meine-pers%C3%B6nlichen-top-energie-tankstellen/
LG Doris
Hi Doris, danke das freut mich, dass dir der Beitrag gefallen hat! Ja, im Alltag ist’s nicht immer so leicht den Flow herzustellen. In der Zeit auf dem Jakobsweg kann ich aber z.B. überlegen, wie ich auch den Alltag dann schöner gestalten kann, dass es mehr „fließt“ und rockt. 🙂 Lg Christoph
Ein sehr interessanter Artikel :-). Bei einer langen Wanderung also, interessant, auch weil es um den Kontakt zu anderen Menschen geht. Da sieht man, wie unterschiedlich Menschen sind, bei mir wirkt die Anwesenheit anderer eher hemmend auf den Flow, ich bin aber auch eine Einzelgängerin, wie sie im Buche steht. Wenn Du als Reisender einen Weg kennst, auf dem die Wahrscheinlichkeit, keinem zu begegnen ist sehr hoch ist, dann wäre das vielleicht mein Flow-Wanderweg ;-).
Hallo Claudia, bei meiner ersten Reise im März hatte ich auch das Bedürfnis, unbedingt alleine zu gehen. Später hat sich das dann etwas verändert, es geht aber immer noch um eine gesunde Balance. Wenn du im Frühjahr, Herbst oder Winter pilgerst, dann dürftest du auf dem Küstenweg viel Zeit und Raum für dich alleine haben. Lediglich im Sommer ist der Weg inzwischen auch sehr voll..
Wie schön gesagt!!! Ich finde immer wieder erstaunlich, wie gut und deutlich Du die wichtigen Dinge des Lebens ausdrücken kannst! Deine Worte bringen mich immer wieder zurück. … zum Jakobsweg oder treffen meinen momentanen Zustand sehr gut 🙂
Liebe Grüße,
Franziska
Hallo Franziska, das ist schön zu hören! 🙂 Liebe Grüße nach Bamberg!